Der Beschluss des Bundesrats in der Bundesratsdrucksache 203/2005 enthält die nähere Begründung für die beabsichtigte Aufhebung des Zeugnisverweigerungsrechts für Verlobte: Wie sich aus den Motiven zur Strafprozessordnung des Deutschen Reichs von 1877 ergibt, ging der Gesetzgeber bei der Einführung des Zeugnisverweigerungsrechts für Verlobte vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund davon aus, dass eine missbräuchliche Berufung auf ein bestehendes Verlöbnis nur in seltenen Fällen vorkommen wird (zitiert bei Hahn, Materialien zur StPO, Bd. 2, S. 312). Unter dieser Prämisse wurde auch in Kauf genommen, dass sich der Verlöbnisbegriff einer rechtlichen Fixierung schon damals entzog. Seit einer Entscheidung
des Reichsgerichts vom 28. Januar 1884 (RGSt 10, 117 <119/120>) wird das Verlöbnis unverändert definiert als ein gegenseitiges, ernstlich gemeintes Eheversprechen, das keiner Form bedarf und auch durch schlüssiges Verhalten abgegeben werden kann. Die Lebensverhältnisse der Menschen und die Formen ihres Zusammenlebens haben sich seit dem 19. Jahrhundert jedoch grundlegend verändert. Die nichteheliche Lebensgemeinschaft, die als Konkubinat in der Rechtsprechung vereinzelt noch bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts als sittenwidrig verurteilt wurde, ist inzwischen eine gesellschaftlich anerkannte und weit verbreitete Form der Partnerschaftsgestaltung, die neben der Ehe besteht. Auch gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften sind in den letzten Jahren von der Gesellschaft akzeptiert und rechtlich durch das Institut der eingetragenen Lebenspartnerschaft anerkannt worden. Das soziale, nach außen hervortretende und nachprüfbare Verhalten von zwei Menschen, die ernstlich gewillt sind, eine Ehe oder eine Lebenspartnerschaft miteinander einzugehen, ist von dem Verhalten zweier Menschen, die zusammenleben, ohne sich rechtlich binden zu wollen, auf Grund dieser Entwicklung nicht mehr zu unterscheiden. Anders als die übrigen zur Zeugnisverweigerung berechtigenden persönlichen Gründe kann ein Verlöbnis weder durch objektiv nachweisbare Umstände oder Urkunden noch durch fest strukturierte und nach außen erkennbare Lebensverhältnisse der Betroffenen nachgewiesen werden. Die Möglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden und der Gerichte, das Bestehen eines behaupteten Verlöbnisses zu überprüfen, sind daher äußerst begrenzt. Infolgedessen werden Verlöbnisse in Strafverfahren und anderen gerichtlichen Verfahren vielfach zu Unrecht behauptet, um eine missliebige Aussage zu vermeiden. In dem Kommentar zum Strafgesetzbuch von Tröndle/Fischer heißt es hierzu in plastischer Weise, dass "namentlich Strafverfahren nach §§ 180a ff. ... sich nicht selten als Wettlauf der Strafverfolgungsbehörden mit Scharen von Heiratswilligen (erweisen)" (vgl. Tröndle/Fischer, StGB, 52. Aufl., § 11 Rnr. 8; vgl. auch Kühne, in: Luchterhand´scher Alternativkommentar zur StPO, Bd. 1, 1988, § 52 Rnr. 5; Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 6. Aufl., Rnr. 527 a.E.). Dabei sind es oftmals sogar die Opfer von schweren Gewalttaten, die sich zu Gunsten des Täters auf ein Zeugnisverweigerungsrecht als Verlobte berufen, um Repressalien zu entgehen. Konsequenz dieser Entwicklung muss die Aufhebung des Zeugnisverweigerungsrechts für Verlobte sowie der damit im sachlichen Zusammenhang stehenden weiteren Privilegien von Verlobten im Strafrecht sein. Jedes Zeugnisverweigerungsrecht steht in einem Spannungsverhältnis zu dem Gebot umfassender Sachaufklärung und Wahrheitsfindung in gerichtlichen Verfahren sowie einer effektiven Strafverfolgung durch den Staat und muss an eindeutige und objektiv nachprüfbare Kriterien anknüpfen. Es ist nur dann gerechtfertigt, wenn die Gründe für das Zeugnisverweigerungsrecht den Erfordernissen einer funktionierenden Rechtspflege vorgehen. Dies ist bei dem Zeugnisverweigerungsrecht auf Grund eines Verlöbnisses nicht mehr der Fall. Wie dargestellt, hat die Veränderung der Lebenswirklichkeit dazu geführt, dass der Grund für die Privilegierung von Verlobten entfallen ist und das Verlöbnis im Verfahrensrecht in erheblichem Umfang missbraucht wird, um Aussagen zu vermeiden. Täter, die schwere Straftaten begangen haben, können nicht belangt werden, weil der Hauptbelastungszeuge oder die Hauptbelastungszeugin ein Verlöbnis mit dem Beschuldigten behauptet, das nicht widerlegt werden kann. Dabei handelt es sich oftmals um schwerwiegende Straftaten wie die nach den §§ 180a ff. StGB, bei denen die Strafverfolgungsbehörden auf Zeugen aus dem Näheverhältnis des Täters angewiesen sind, bei denen wiederum die unwahre Behauptung eines Verlöbnisses besonders nahe liegt. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedrohung der inneren Sicherheit durch organisierte Kriminalität und Straftaten mit terroristischem Hintergrund, bei denen ebenfalls Zeugen, die wie Verlobte aus dem näheren Umkreis des Täters stammen, von erheblicher Bedeutung sind, kann dieser Zustand nicht mehr hingenommen werden. Hier ist das vollständige pdf-Dokument des Beschlusses des Bundesrats veröffentlicht.
Anmerkung: Es darf nicht übersehen werden, dass die von Anfang an - und das war immerhin das Jahr 1877 - bestehende Gefahr eines Missbrauchs des Zeugnisverweigerungsrechts von Verlobten gesehen und in Kauf genommen wurde, um die Zwangslage von Zeugen, die verpflichtet sind, die Wahrheit zu sagen, aber gleichzeitig Sorge haben müssen, ihren Angehörigen zu schaden, wenn sie die Wahrheit sagen, zu vermeiden.
Die seitdem eingetretene Änderung der Lebensverhältnisse wirkt sich aber keinesfalls auf die geschilderte Konfliktlage von Verlobten aus. Sie stehen vor dem unlösbaren Problem, ihren ausgewählten Ehegatten oder Lebenspartner durch Kenntnisse schaden zu müssen, die sie allein deshalb so intensiv erlangt haben, weil die besondere Nähe zu einem anderen Menschen bestand. Der Konflikt ist gleich geblieben. Es erscheint unangemessen, das Wissen von Verlobten im Interesse der Strafverfolgung wie das Wissen von V-Leuten nachträglich abzuschöpfen.
Die Entwicklung von nichtehelichen Lebenspartnerschaften ist, abgesehen davon, dass auch diese schon lange gibt (z.B. "Onkelehe", um die Witwenrente nicht zu verlieren), keine tragfähige Begründung für die Abschaffung eines Zeugnisverweigerungsrechts für Verlobte, weil sich deren Situation nicht verändert hat.
Die Abschaffung einer derartigen Regelung mit der Begründung, dass sie missbraucht werde, ist nicht gerechtfertigt. Mit einer derartigen Begründung könnte man jede Vorschrift streichen, die im Einzelfall missbräuchlich ausgenutzt wird. Eine absurde Vorstellung.
Die Änderung der Lebensverhältnisse hat auch im Gegensatz zur früher weit überwiegend üblichen Ehe auf Lebenszeit zu Ehen geführt, die mehr oder weniger schnell vorzeitig durch Scheidung beendet werden. Es kommt (hoffentlich) niemand auf die Idee, das Zeugnisverweigerungsrecht von Eheleuten wegen der manchmal nur sehr kurzlebigen Ehen umständebedingt ebenfalls aufzuheben.
Die effektive Terrorismusbekämpfung kann als Argument für die Abschaffung aller Freiheitsrechte herangezogen werden und taugt nicht als Argument zur Abschaffung von Zeugnisverweigerungsrechten der Verlobten.
Das Zeugnisverweigerungsrecht von Verlobten sollte nicht abgeschafft werden. Es drohen nur weitere Ermittlungsverfahren, wenn Zeugenaussagen gegen Verlobte erzwungen werden und der Zeuge/die Zeugin in dieser ausweglos erscheinenden Situation falsch aussagt, weil keine Möglichkeit zu schweigen besteht.
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