OVG Berlin - Urteil vom 2. Dezember 2004 - OVG 5 B 12.01 -: Berlin, den 24.03.2005
Der 5. Senat des Oberverwaltungsgerichts Berlin hat am heutigen Tage sein Urteil in Sachen Land Berlin gegen die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Deutschland e.V. verkündet, nachdem der den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vom 02.12.2004 unterbreitete Vergleichsvorschlag (vgl. Pressemitteilung 39/2004) vom Land Berlin nicht angenommen worden ist.
Die Berufung des Landes Berlin ist erneut erfolglos geblieben. Nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts erfüllt die Gemeinschaft die Voraussetzungen für die Verleihung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts.
Das Bundesverfassungsgericht hatte die - zuungunsten der Religionsgemeinschaft ausgefallene - Revisionsentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aufgehoben und die Sache an das Bundesverwaltungsgericht zurückverwiesen. Das Bundesverwaltungsgericht seinerseits hat daraufhin unter erneuter Aufhebung des OVG-Urteils, das dem Verlangen der Religionsgemeinschaft stattgegeben hatte, das Verfahren an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen. Das Oberverwaltungsgericht sei von einem zu großzügigen Verständnis von den Verleihungsvoraussetzungen ausgegangen und habe daher keine hinreichenden Tatsachenfeststellungen zu möglichen Gefährdungen der Grundrechte Dritter getroffen.
Das Bundesverwaltungsgerichts hat Aufklärungsbedarf vor allem dahin gesehen, ob die Religionsgemeinschaft darauf hinwirke, im Fall der Weigerung von Eltern, der Bluttransfusion bei ihren noch nicht einsichtsfähigen Kindern zuzustimmen, staatliche Schutzmaßnahmen zu erschweren oder zu verhindern.
Das Oberverwaltungsgericht hat dazu festgestellt, aus den Akten des Beklagten ergebe sich, dass Nachfragen bei Ärzten, Kliniken sowie Staats- und Amtsanwaltschaft keine einschlägigen Erkenntnisse zutage gefördert hätten. Aus dem 1998 veröffentlichten Bericht der Enquete-Kommission „Sog. Sekten und Psychogruppen“ des Deutschen Bundestages ergäben sich in dieser Richtung ebenfalls keine Anhaltspunkte. Sie habe im Gegenteil festgestellt, dass die prinzipielle Rechtsposition in Deutschland, Bluttransfusionen notfalls auch gegen den Willen der Eltern durchzusetzen, von der Religionsgemeinschaft akzeptiert werde. Dem entspreche es, dass die Familiengerichte in der allseits bekannten Haltung der Zeugen Jehovas zur Blutfrage einhellig keinen Hinderungsgrund sähen, einem dieser Religionsgemeinschaft angehörenden Elternteil das Sorgerecht zu übertragen. Andere behördliche oder gerichtliche Erkenntnisse gebe es nicht.
Für die - übrigens nicht nur im Zusammenhang mit dem Thema Bluttransfusionen aufgestellte - Behauptung des Beklagten, die Klägerin verhalte sich intern anders, als sie es nach außen verlautbare, und nutze die Gelegenheit des Prozesses, um sich in einem günstigen Licht darzustellen, gibt es nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts keine greifbaren Anhaltspunkte. Gerade beim Thema Bluttransfusionen erscheine es ausgeschlossen, dass massive Behinderungen staatlicher oder ärztlicher Schutzmaßnahmen seitens der Klägerin nicht ans Licht der Öffentlichkeit geraten wären.
Weiter hat das Bundesverwaltungsgerichts es für erforderlich erachtet aufzuklären, ob die Zeugen Jehovas gegenüber in der Gemeinschaft verbliebenen Familienmitgliedern - wie der Beklagte behauptet - aktiv darauf hinarbeite, dass der Kontakt auf das „absolut Notwendige“ beschränkt oder sogar aufgegeben werde, so dass dadurch der Bestand von Familie oder Ehe gefährdet sei und möglicherweise auch der Weg in den Austritt aus der Gemeinschaft versperrt werde.
Objektive Anhaltspunkte für derartige Verhaltensanweisungen, die der Beklagte als „eminent familienfeindliche“ Praktiken bezeichnet, gebe es aus der Sicht des Oberverwaltungsgerichts nicht. Die familiengerichtliche Rechtsprechung lasse auf solche Verhaltensweisen nicht schließen. Weder Anfragen des Beklagten bei den zuständigen Ministerien anderer Bundesländer noch zwei im Abstand von mehreren Jahren durchgeführte Umfragen bei den Berliner Bezirksämtern oder Besprechungen anlässlich einer Tagung der Leiter der familienpsychologischen Beratungsstellen hätten zu entsprechenden Erkenntnissen geführt. Im Ergebnis könne sich der Beklagte daher nur auf sog. Aussteigerberichte, Berichte von „Sekten“initiativen, Videoaufzeichnungen von Fernsehsendungen und Bücher amerikanischer „Experten“ stützen. Beweisanträge habe er in diesem Zusammenhang nicht gestellt. Mangels greifbarer objektiver Anhaltspunkte hat sich der 5. Senat nicht veranlasst gesehen, den in den zahllosen Berichten aufgestellten Behauptungen nachzugehen. Der Beklagte habe diese Berichte nicht nach ihrer rechtlichen Bedeutung für die zu entscheidende Frage sondiert, ob mit den behaupteten Verhaltensweisen Eingriffe in Art. 6 GG, der lediglich die sog. Kernfamilie - also die Verbindung zwischen Eltern und Kindern - erfasst, verbunden seien. Ausweislich der Verwaltungsvorgänge habe er vielmehr die ihm unaufgefordert zugesandten, aus dem Internet entnommenen oder von Seiten interessierter Kreise zur Verfügung gestellten „Erfahrungsberichte“ in inhaltlicher wie persönlicher Hinsicht ungeprüft übernommen.
Namentlich die im Auftrag der Enquete-Kommission erstellten Gutachten belegten nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts nicht nur die These, dass bei der Bewertung solcher sog. Aussteigerberichte Zurückhaltung geboten sei; das räume auch der Beklagte ein. Sie sagten vor allem aus, dass eine Beurteilung, ob und ggf. zu welchen Anteilen die als destruktiv empfundenen und beschriebenen Konflikte in der Struktur oder der Lehre der Gemeinschaft begründet seien, ohne Kenntnis vom psychosozialen Hintergrund des Betreffenden nicht möglich sei. Es liege auf der Hand, dass solche Personen den ohnehin schwierigen Ausstieg aus einer Gemeinschaft und die mit ihm verbundene psychische wie soziale Labilisierung als besonders krisenhaft empfänden. Dass sie ihren Erfahrungen mit der Gemeinschaft - und das gelte erst recht für nicht freiwillig Ausgestiegene - im Nachhinein positive Aspekte abgewinnen könnten, sei kaum anzunehmen. Bei dieser Erkenntnislage ließen sich die Vermutungen des Beklagten zu den Ursachen für die, wie er es ausdrückt, „verhältnismäßig wenigen“ Informationen seitens von ihm befragter Behörden und Institutionen nicht halten. Er übersehe, dass sich das Fehlen kritischer Erfahrungsberichte aktiver Mitglieder der Klägerin nicht nur durch Furcht vor dem Ausschluss aus der Gemeinschaft, sondern mindestens ebenso plausibel durch die Bedeutung von Religiosität für das individuelle psychische Befinden erklären ließen. Davon, dass „Fakten daher hauptsächlich von Aussteigern und Ausgeschlossenen zu erwarten“ seien, könne deshalb keine Rede sein.
Schließlich hat das Bundesverwaltungsgerichts für klärungsbedürftig gehalten, ob die Religionsgemeinschaft Erziehungsmaßstäbe vorschreibe, die eine Entwicklung von Kindern zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten innerhalb der Gesellschaft in einem Maße beeinträchtigten, dass das Kindeswohl gefährdet sei.
Hierzu hat das Oberverwaltungsgericht festgestellt, dass die in Sorgerechtsfällen regelmäßig erhobenen und mit dem Vorbringen des Beklagten im hiesigen Verfahren deckungsgleichen Vorwürfe gegen die vermeintlichen (Erziehungs-)Praktiken der Zeugen Jehovas wie das Erziehen mit körperlicher Gewalt, das Hineindrängen in eine Außenseiterrolle oder die Verhinderung angemessener Schulbildung, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in der familiengerichtlichen Rechtsprechung und - soweit aktenkundig - den in Sorgerechtsprozessen erstatteten kinderpsychologischen Gutachten keine Entsprechung fänden. Den vom Bundestag veranlassten Expertenberichten seien greifbare Anhaltspunkte ebenfalls nicht zu entnehmen. Im Gegenteil: Nach Ansicht der Familiengerichte wie auch der Leitung des Modellprojekts „Prävention im Bereich der sog. Sekten und Psychogruppen“ und ihrer wissenschaftlichen Begleitung schließe eine „Sektenzugehörigkeit“ die Erziehungseignung nicht aus. Es werde empfohlen, beim sog. „Außenseiterkriterium“ äußerste Vorsicht walten zu lassen. Insbesondere sei es nicht schon dann erfüllt, wenn eine Hochschulausbildung - wie es bei den Zeugen Jehovas der Fall sein möge - als nicht erstrebenswert bezeichnet werde, da dann konseqenterweise Gesellschaftsgruppen, deren Kinder ebenfalls einen niedrigen Anteil am akademischen Nachwuchs stellten, ein ähnliches „Fehlverhalten“ vorgehalten werden müsste.
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