Nach einer Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts hat der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in einem Beschluss vom 07.06.2005 - 1 BvR 1508/96 - eine Entscheidung des Landgerichts Duisburg regelrecht zerpflückt.
Der Sachverhalt: Die pflegebedürftige Mutter der Beschwerdeführerin (Bf) lebte in den letzten vier Jahren vor ihrem Tod (1995) in einem Alten- und
Pflegeheim. Da die Einkünfte der Mutter zur Begleichung der Heimpflegekosten nicht ausreichten, leistete ihr die Stadt Bochum als örtlicher Träger der Sozialhilfe laufende monatliche Hilfe in Höhe von insgesamt ca. 123.000,-- DM.
Die 1939 geborene Bf war seit ihrem 15. Lebensjahr berufstätig. Sie hatte bis zum Zeitpunkt ihrer betriebsbedingten Kündigung im Herbst 1996 aus ihrer Halbtagstätigkeit zuletzt ein Nettoeinkommen von ca. 1.100,-- DM monatlich erzielt. Der Ehemann der Bf, von dem sie seit 1994 getrennt lebt, ist technischer Angestellter und seit 1995 Rentner. Die kinderlosen Eheleute sind Eigentümer zu je ½ eines mit einem Vier-Familienhaus bebauten Grundstücks. Eine der vier Wohnungen bewohnt die Bf, die drei übrigen Wohnungen sind vermietet. Der Grundstücksanteil der Bf hat abzüglich der Belastungen einen Verkehrswert von 245.000,-- DM. Die monatlichen Belastungen für das Grundstück übersteigen die Nettoeinnahmen.
Die Stadt Bochum verklagte die Bf aus übergeleitetem Recht auf Zahlung von Elternunterhalt. Die Klage vor dem Amtsgericht war erfolglos. Mit
letztinstanzlichem Urteil stellte das Landgericht Duisburg eine Zahlungspflicht der Bf in Höhe von 123.306,88 DM fest. Zugleich verurteilte es die Bf, das Angebot der Stadt Bochum anzunehmen, wonach der vorgenannte Betrag als zinsloses Darlehen gewährt wird, das drei Monate nach dem Tod der Bf zur Rückzahlung fällig ist. Zudem wurde die Bf verurteilt, zur Sicherung des Darlehens eine Grundschuld in Höhe von 123.000,-- DM auf ihrem Miteigentumsanteil am Hausgrundstück zu bestellen.
Der Beschluss,
zusammengefasst in der Pressemitteilung:
Die der Bf vom LG auferlegte Verpflichtung zur Annahme eines zinslosen Darlehens und zur Bewilligung einer Grundschuld auf ihren Miteigentumsanteil entbehrt jeder Rechtsgrundlage und steht in krassem Widerspruch zu allen zur Anwendung gebrachten Normen. Das Gericht hat sich mit seiner Entscheidung der Bindung an Gesetz und Recht entzogen und damit die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Handlungsfreiheit der Bf in nicht mehr durch die verfassungsmäßige Ordnung legitimierter Weise beschränkt.
1. Die Leistungsfähigkeit der Bf ist - auch nach Auffassung des LG - erst mit dem Darlehensangebot des Sozialhilfeträgers, also nach dem Tod ihrer Mutter, entstanden. Damit hat das Gericht einen Unterhaltsanspruch für einen vergangenen Zeitraum mit einer Leistungsfähigkeit der Bf begründet, die erst nach dem Wegfall der Bedürftigkeit der Mutter
eingetreten ist. Dies widerspricht schon in Wortlaut und Systematik den hier maßgeblichen unterhalts- und sozialhilferechtlichen Regelungen. Ein Unterhaltsanspruch nach § 1601 BGB besteht nur dann, wenn Bedürftigkeit beim Unterhaltsberechtigten und Leistungsfähigkeit beim
Unterhaltspflichtigen zeitgleich vorliegen. Auch §§ 90, 91 BSHG, die die Überleitung von Unterhaltsansprüchen ermöglichen, die dem Hilfeempfänger im Zeitraum der Hilfeleistung zustehen, gehen von einer zeitlichen Kongruenz zwischen Bedürftigkeit und Leistungsfähigkeit aus. Die Heranziehung von § 89 BSHG zur Begründung eines Unterhaltsanspruchs steht in klarem Widerspruch zum Wortlaut dieser Norm und zu ihrer systematischen Einbindung in das sozialhilferechtliche Gefüge.
2. Die Auslegung des LG widerspricht auch dem Zweck der angewendeten Normen. Dem Grundsatz des Sozialhilferechts, einen Rechtsanspruch auf Hilfe - wenn auch gegenüber einem Unterhaltsanspruch nur nachrangig - zu geben, läuft zuwider, mit Hilfe eines vom Sozialhilfeträger gewährten Darlehens einen zivilrechtlich nicht gegebenen Unterhaltsanspruch
sozialhilferechtlich begründen zu wollen. Diese rechtliche Konstruktion würde letztlich Sozialhilfeansprüche gänzlich zum Wegfall bringen. Denn wenn mit Hilfe eines Darlehens die Leistungsfähigkeit eines Unterhaltspflichtigen hergestellt werden könnte, läge es in der Hand des Sozialhilfeträgers, einen Sozialhilfeanspruch nicht zum Tragen kommen zu lassen. Dies hätte zur Folge, dass ein Bedürftiger zwar selbst mit der Geltendmachung eines Unterhaltsanspruchs gegenüber einem nicht leistungsfähigen Unterhaltspflichtigen scheitern würde, der Sozialhilfeträger jedoch mit einem entsprechenden Darlehensangebot den Unterhaltsanspruch begründen und sich damit von seiner Verpflichtung zur Sozialhilfegewährung befreien könnte. Es liefe außerdem dem Sozialstaatsgebot zuwider, das fordert, Menschen einen Anspruch auf
staatliche Hilfe zukommen zu lassen, um so ihr Existenzminimum zu sichern.
3. Schließlich widerspricht die Auslegung des LG auch dem Willen des Gesetzgebers. Er hat dem Elternunterhalt gegenüber dem Kindesunterhalt nicht nur nachrangiges Gewicht verliehen (§ 1609 BGB), sondern auch den Umfang der Verpflichtung deutlich gegenüber der Pflicht zur Gewährung von Kindesunterhalt eingeschränkt (§ 1603 Abs. 1 BGB). Die nachrangige Behandlung des Elternunterhalts entspricht der grundlegend anderen Lebenssituation, in der die Unterhaltspflicht jeweils zum Tragen kommt. Bei der Pflicht zum Elternunterhalt ist dies meist dann der Fall, wenn die Kinder längst eigene Familien gegründet haben, sich Unterhaltsansprüchen ihrer eigenen Kinder und Ehegatten ausgesetzt sehen, sowie für sich selbst und für die eigene Altersabsicherung zu sorgen haben. Dazu tritt nun ein Unterhaltsbedarf eines oder beider Elternteile im Alter hinzu, der mit deren Einkommen, insbesondere ihrer Rente, vor allem im Pflegefall nicht abgedeckt werden kann. Diesen sich
kumulierenden Anforderungen hat der Gesetzgeber Rechnung getragen, indem er sichergestellt hat, dass dem Kind ein seinen Lebensumständen entsprechender eigener Unterhalt verbleibt.
Die vom Gesetzgeber dem Elternunterhalt zugewiesene, relativ schwache Rechtsposition wird durch die neuere Entwicklung der Gesetzgebung aus jüngerer Zeit noch untermauert. Mit der schrittweisen Reduzierung der Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung und der Einführung der gesetzlich geförderten privaten Altersvorsorge ("Riester-Rente") hat der
Gesetzgeber die Verantwortung jedes Einzelnen hervorgehoben, für seine Alterssicherung neben der gesetzlichen Rentenversicherung rechtzeitig und ausreichend vorzusorgen. Dies muss bei der Bestimmung des einem unterhaltspflichtigen Kind verbleibenden angemessenen Unterhalts Berücksichtigung finden. Insbesondere aber hat der Gesetzgeber mit der Einführung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ab 1. Januar 2003 durch das Grundsicherungsgesetz und seit dem 1. Januar 2005 durch die §§ 41 ff. SGB XII verdeutlicht, dass die Belastung erwachsener Kinder durch die Pflicht zur Zahlung von Elternunterhalt unter
Berücksichtigung ihrer eigenen Lebenssituation in Grenzen gehalten werden soll.
Die schallende Ohrfeige vom Bundesverfassungsgericht für die - zunächst - rechtkräftig entscheidenden Richter des Landgerichts Duisburg zum Schluss:
Mit seiner rechtschöpferischen Annahme eines Unterhaltsanspruchs, die dem Wortlaut sämtlicher für die Entscheidung maßgeblicher Gesetzesnormen und deren Normenkontext sowie den anerkannten Auslegungsmethoden entgegensteht, hat das Landgericht nach allem den Boden des geltenden Rechts verlassen. Seine Interpretation der angewandten Rechtsnormen widerspricht dem vom Gesetzgeber bestimmten Verhältnis von Unterhalts- und Sozialhilferecht und greift mit der Heranziehung eines auf Grund seines eigenen Einkommens und Vermögens nicht Leistungsfähigen zu Unterhaltszahlungen ohne gesetzliche Grundlage in dessen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG ein. Die Entscheidung des Landgerichts findet damit in der verfassungsmäßigen Ordnung, die allein der in Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Handlungsfreiheit Grenzen setzt, keinerlei Grundlage und verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG. Die Entscheidung ist aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen.
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