Samstag, 20. August 2005

Weiterbildung muss zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht abgebrochen werden

In einem Eilverfahren hat das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 16.08.2005 L 5 B 52/05 AS ER; S 59 AS 1522/05 ER Berlin) das Ansinnen der Behörde und des Sozialgerichts Berlin zurückgewiesen und die vorläufige Zahlung des notwendigen Bedarfs einer 41jährigen ursprünglich als Technikerin - Mechanikerin ausgebildeten Frau, die mit Förderung des Arbeitsamtes eine Ausbildung als Altenpflegerin durchführt, wie folgt angeordnet: "Nach § 7 Abs. 1 SGB II erhalten diejenigen Personen Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches, die das 15., nicht aber das 65. Lebensjahr vollendet haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind sowie ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Hilfebedürftige). Gemäß § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II haben allerdings Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes oder der §§ 60 bis 62 SGB III dem Grunde nach förderungsfähig ist, keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Unabhängig von der Förderungsfähigkeit der von der Antragstellerin besuchten Weiterbildung nach den Vorschriften des Bundesausbildungsförderungsgesetzes ergibt eine Auslegung von § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II, dass der Anspruchsausschluss nicht für Weiterbildungen gilt, die – wie diejenige der Antragstellerin – nach § 77 SGB III förderungsfähig sind. Das vierte Kapitel des SGB III („Leistungen an Arbeitnehmer“) enthält mit den §§ 59 bis 76 im fünften Abschnitt Vorschriften über die „Förderung der Berufsausbildung“ und im sechsten Abschnitt mit den §§ 77 bis 87 Vorschriften über die „Förderung der beruflichen Weiterbildung“. Soweit § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II die Vorschriften des SGB III in den Blick nimmt, werden nur Ausbildungen für anspruchsausschließend erklärt, die nach §§ 60 bis 62 SGB III als „Berufsausbildung“ förderungsfähig sind. Eine berufliche Weiterbildung nach §§ 77 ff. SGB III erklärt § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II dagegen nicht als anspruchsausschließend, was angesichts der genauen Formulierung dieser Vorschrift auch nicht als Zufall gelten kann: Der Gesetzgeber wollte zur Überzeugung des Senats offensichtlich nicht verhindern, dass nach § 77 ff. SGB III mit einem Bildungsgutschein geförderte berufliche Weiterbildungen die Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB II ausschließen, was auch die einschlägige Kommentarliteratur bestätigt, soweit sie sich mit der Frage ausdrücklich befasst (vgl. Brühl in LPK-SGB II, 1. Aufl. 2005, Rdnr. 68 zu § 7 SGB II; Valgolio in Hauck/Noftz, SGB II, Stand Nov. 2004, Rdnr. 35 zu § 7 SGB II; Peters in Estelmann, SGB II, Stand Februar 2005, Rdnr. 49 zu § 7).

Die Richtigkeit dieser Auslegung von § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II bestätigt sich mit Blick auf das „Fördern und Fordern“ überschriebene erste Kapitel des SGB II. Dort heißt es in § 1 Abs. 1 Satz 1: „Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll die Eigenverantwortung von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und Personen, die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, stärken und dazu beitragen, dass sie ihren Lebensunterhalt unabhängig von der Grundsicherung aus eigenen Mitteln und Kräften bestreiten können.“ § 1 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 SGB II lautet: „Die Leistungen der Grundsicherung sind insbesondere darauf auszurichten, dass durch eine Erwerbstätigkeit Hilfebedürftigkeit vermieden oder beseitigt, die Dauer der Hilfebedürftigkeit verkürzt oder der Umfang der Hilfebedürftigkeit verringert wird.“ Das SGB II verfolgt damit ausdrücklich das Ziel der Eingliederung in Arbeit. Diesem Ziel trägt die Auslegung von § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II Rechnung, die eine berufliche Weiterbildung im Sinne von § 77 SGB III nicht als Ausschlussgrund für den Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ansieht.

Ob im Falle der Antragstellerin eine „besondere Härte“ im Sinne von § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II zu erkennen ist, kann der Senat danach offen lassen.

Ein Anordnungsgrund ist ohne Weiteres zu bejahen, denn wenn die Antragstellerin nicht umgehend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts erhält, ist zu befürchten, dass sie die Weiterbildung, die ihr gegenwärtig die Perspektive bietet, später ohne Sozialleistungen leben zu können, aufgeben muss. Damit droht unmittelbarer und gravierender Rechtsverlust. Gleichzeitig sieht der Senat als glaubhaft gemacht an, dass die Antragstellerin ihren Lebensunterhalt nicht anderweitig bestreiten kann, nachdem sie sich bereits bei Freunden und Verwandten verschuldet hat.

c) Unabhängig von alledem kommt der Senat auch und gerade im Rahmen der für den Eilrechtsschutz kennzeichnenden Folgenabwägung zu einem für die Antragstellerin günstigen Ergebnis. Die Folgen einer ungerechtfertigten Ablehnung des Eilantrages würden nämlich ungleich schwerer wiegen als die Folgen einer sich im Hauptsacheverfahren nicht bestätigenden Stattgabe.


Für diese Folgenabwägung kann der Senat nach dem Vorbringen der Antragstellerin unterstellen, dass sie ihre auf drei Jahre angelegte Weiterbildung zur staatlich anerkannten Altenpflegerin abbrechen müsste, wenn sie begleitend keine Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II erhielte. Denn es liegt auf der Hand, dass ihr Ehemann nicht in der Lage ist, den Lebensunterhalt des Ehepaares aus den ausschließlich ihm gewährten Leistungen nach dem SGB II zu gewährleisten. Dies bedarf keiner weiteren Vertiefung. Gleichzeitig liegt auf der Hand, dass die heute 41-jährige Antragstellerin mit ihrer Ausbildung zur staatlich anerkannten Altenpflegerin einen Weg beschreitet, der sie schon auf mittlere Sicht unabhängig von staatlichen Sozialleistungen machen wird, denn die Altenpflege ist ein Wirtschaftszweig, der angesichts der Bevölkerungsstatistik auch ohne nähere Erläuterung als Beruf mit Zukunft bezeichnet werden darf. Nicht umsonst wird die Weiterbildung der Antragstellerin daher von der Arbeitsagentur mit einem Bildungsgutschein im Werte von 6.237 Euro gefördert. Es wäre widersinnig, die Antragstellerin zur Aufgabe dieser Weiterbildung zu drängen, wenn diese gleichzeitig einen geeigneten Weg darstellt, später gar nicht mehr auf Fürsorgeleistungen angewiesen zu sein. Dieser Gedanke hat offensichtlich auch das Sozialamt bis Ende des Jahres 2004 veranlasst, der Klägerin ausbildungsbegleitend Sozialhilfe zu gewähren. Das Sozialgericht hat in diesem Zusammenhang verkannt, dass die besonderen Umstände des Falles der Antragstellerin gerade darin liegen, dass ihre Weiterbildung mit einem Bildungsgutschein gefördert wird. Aber auch die Antragsgegnerin hätte erkennen müssen, welch gravierende Folge die Ablehnung von Leistungen nach dem SGB II für die Antragstellerin hat und dass damit der Bildungsgutschein nach dem SGB III geradezu konterkariert wird. Abgesehen von der inhaltlich unzulänglichen Bearbeitung des Begehrens der Antragstellerin sieht der Senat besonders gravierende Verletzungen der Verfahrensrechte durch die Sachbearbeitung der Antragsgegnerin: Zum einen hätte es sich aufdrängen müssen, die Antragstellerin nicht mit der Einstellung jeglicher Leistung zu überraschen, sondern sie zunächst anzuhören (§ 24 Abs. 1 SGB X); zum anderen besteht ein besonders schwerwiegender formeller Mangel des Bescheides vom 22. Dezember 2004 darin, dass er die Ablehnung von Leistungen nach dem SGB II mit keinem Wort begründet. Insgesamt sieht der Senat angesichts der existentiellen Bedeutung der Angelegenheit für die Antragstellerin in der Sachbearbeitung durch die Antragsgegnerin eine Herabwürdigung der Antragstellerin zum bloßen Objekt staatlichen Handelns, also eine Verletzung der Menschenwürde (zur Grundrechtsrelevanz von Verfahrensrechten vgl. Krasney in Kasseler Kommentar, Stand Dezember 2003, Rdnr. 2 zu § 24 SGB X). Dieser Aspekt konnte im Rahmen der Folgenabwägung nicht ohne Bedeutung bleiben und führt zusammen mit den voranstehenden Erwägungen zu der abschließenden Feststellung, dass die Gefahr im Ergebnis ungerechtfertigter Sozialleistungen weniger schwer wiegt als die der Antragstellerin durch den Abbruch ihrer Ausbildung drohenden Nachteile, weshalb wie eingangs zu tenorieren war.


d) Die konkrete Höhe des gegenwärtig zu leistenden Betrages errechnet sich aus 311,- Euro als Regelleistung und 176,68 Euro an Kosten für Unterkunft und Heizung entsprechend der von der Antragsgegnerin im Bescheid vom 22. Dezember 2004 vorgenommenen Berechnung. Die Leistung ist der Antragstellerin für die Zeit ab März 2005, dem Monat der Beantragung der einstweiligen Anordnung bei Gericht, zu gewähren...."

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