Kein Rückbrief = Zugang eines abgesandten Schreibens. Diese absonderliche Denkweise hat ein Oranienburge Amtsrichter in einem Zivilprozess als Entscheidung über eine Gehörsrüge geäußert, in dem der Kläger 85,80 EURO, zunächst im gerichtlichen Mahnverfahren geltend machte. Im schriftlichen Vorverfahren nach Widerspruch ging nach Klagebegründung die Klageerwiderung ein. Nach Eingang der Klageerwiderung vom 17. Januar 2005, mit der der Beklagte die Forderung bestritt, beschloss der Richter, nach § 495a ZPO ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, und setzte dem Beschwerdeführer eine Frist zur Replik bis zum 25. Februar 2005. Gleichzeitig ordnete er an, den Beschluss und eine Abschrift der Klageerwiderung an den Bevollmächtigten des Beschwerdeführers mittels Empfangsbekenntnis zuzustellen.
Obwohl kein unterschriebenes Empfangsbekenntnis als Nachweis der bewirkten Zustellung im Rücklauf zur Gerichtsakte gelangt war, wies der Richter mit Urteil vom 11. März 2005 die Klage im schriftlichen Verfahren ab. In den Entscheidungsgründen führte er aus, dass der Beschwerdeführer seiner Verpflichtung nicht nachgekommen sei, auf die qualifizierte Erwiderung des Beklagten einen geeigneten Beweis anzutreten.
Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Verhalten eindeutig bewertet:
Die angegriffenen Entscheidungen des Amtsgerichts verletzen den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG.
Für das Gericht erwächst aus Art. 103 Abs. 1 GG ferner die Pflicht, vor dem Erlass seiner Entscheidung zu prüfen, ob den Verfahrensbeteiligten das rechtliche Gehör auch tatsächlich gewährt wurde. Insbesondere dann, wenn dem Gebot des Art. 103 Abs. 1 GG durch die Übersendung von Schriftsätzen genügt werden soll, hat das Gericht – etwa durch förmliche Zustellung oder Beifügen einer rückgabepflichtigen Empfangsbescheinigung – zu überwachen, ob die Verfahrensbeteiligten in ihren Besitz gelangt sind.
Die amtsgerichtlichen Entscheidungen stehen darüber hinaus nicht in Einklang mit Art. 3 Abs. 1 GG. Die Annahme des Amtsgerichts, es könne durch Urteil im Verfahren nach § 495a ZPO ohne mündliche Verhandlung entscheiden, obwohl der Zugang des Beschlusses vom 25. Januar 2005, der diese Verfahrensweise anordnet, dem Beschwerdeführer nachweislich nicht zugegangen ist, ist ebenso willkürlich wie die unverständliche Begründung im Beschluss vom 26. Mai 2005. Für beide Ansichten lassen sich keine sachlichen Gründe finden, die mit zivilprozessualen Grundsätzen in Einklang stehen.
Den aufgezeigten Grundrechtsverstößen kommt besonderes Gewicht zu. Sie beruhen auf einer groben Verkennung des durch die Verfassung gewährten Schutzes, auf einem leichtfertigen Umgang mit den grundrechtlich geschützten Positionen und verletzen damit in krasser Form rechtsstaatliche Grundsätze (vgl.BVerfGE 90, 22 <25> ). Dem zuständigen Richter mag zunächst bei Erlass des Urteils noch eine als einfaches Versehen zu qualifizierende Nachlässigkeit unterlaufen sein, als er die Klage unter Berufung auf den Inhalt der Klageerwiderung abwies, ohne deren Zugang an den Beschwerdeführer anhand eines rückläufigen Empfangsbekenntnisses überprüft zu haben. Spätestens aber auf die ausführlich begründete Gehörsrüge musste sich ihm – nicht zuletzt aufgrund der einfach zu durchdringenden Sachlage und der ohne Aufwand möglichen Nachprüfung anhand des Akteninhalts – das Vorliegen eines Gehörsverstoßes aufgedrängt haben. Dass er gleichwohl dem Beschwerdeführer nicht nur die grundgesetzlich gebotene Korrektur seiner Fehlleistung, sondern auch eine dem Grundrechtsverstoß angemessene Begründung des erhobenen Rechtsmittels versagte, lässt den Rückschluss auf eine schwerwiegende Vernachlässigung verfassungsrechtlich geschützter Grundwerte zu. Das Amtsgericht verstößt hier gröblich gegen die mit der Verfahrensgarantie des Art. 103 Abs. 1 GG verbundenen Erwartungen der Bürger, sich zur Streitbeilegung auf das staatliche Rechtsschutzsystem verlassen zu können.
Das klagabweisende Urteil und der die Gehörsrüge zurückweisende Beschluss beruhen auf der objektiv willkürlichen Sachbehandlung. Zudem kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Amtsgericht anders entschieden hätte, wenn der Beschwerdeführer auf die Bekanntgabe der Klageerwiderung und der Anordnung des vereinfachten Verfahrens seinen Vortrag, wie in der Verfassungsbeschwerde-Schrift bezeichnet, substantiiert hätte. Damit beruhen die Entscheidungen auch auf der Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG.
Der vollständige Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 21.03.2006 ist hier veröffentlicht. - 2 BvR 1104/05 -
2 Kommentare:
Ich habe Ihren Bericht mit großer Aufmerksamkeit gelesen. Ich gratuliere Ihnen zu der Entschlossenheit und dass Sie die Ihnen zugemuteten Rechtsverletzungen bis zum Bundesverfassungsgericht verfolgt haben. Sie haben eine Grundsatzentscheidung herbeigeführt, die eigentlich wegweisenden und anmahnenden Charakter in sich tragen sollte.
Doch die Praxis sieht anders aus. Das OLG Brandenburg musste auch in einer mich persönlich betreffenden Angelegenheit rechtswidrige Grundrechtsverletzungen feststellen.
Aus unseren Fällen wird vermutlich niemand in der Politik, in der Richterschaft oder der Dienstaufsicht die entsprechenden Lehren ziehen. Mein "Urteil" ist hingegen eindeutig. Die große Mehrheit der Richterschaft arbeitet vorbildlich, einige wenige nicht. Wenn eine Revisionskammer, wie in Ihrem Fall, derart krasse Rechtsverfehlungen eines Richters feststellt, muss das m.E. weit über die Feststellungen der Revisionsgerichte hinaus Konsequenzen haben und zu Abmahnungen, in Wiederholungsfällen sogar zu Amtsenthebungen führen. Wer als Richter auf das Grundrecht pfeifft verhöhnt m.E. nicht nur das Richteramt, sondern auch den Menschen, der den grundrechtlich geschützten Rechtsschutz sucht. Eine solche Person hat m.E. in dem hochgeachteten, vielleicht sogar in dem wichtigsten Amt unseres Systems "dem Richteramt" nichts mehr zu suchen. Eine derart handelnde Person gilt m.E. als unzuverlässig und dem sollte es nicht mehr möglich sein, Entscheidungen im Namen des Volkes abzusetzen. Wie will man denn einen Bürger glaubhaft vermitteln, dass ein Richter, der sich selbst an die Rechtsnormen nicht hält, über Recht und Unrecht richten kann. Welches negative Signal geht hierdurch in die Gesellschaft und welche Vorbildfunktion hat das für die Jugend?
Doch wen interessiert es in der Praxis und wer hat den Mut, solche Verfehlungen mit einem gezielten Qualitätsmangement für die Zukunft auszuschließen. Wer prüft einmal nach, was die immer wieder zu hörende Überlastung des AG Oranienburg mitverursacht. Wie viele Zurückverweisungen, wie viele Befangenheitsanträge, wie viele Revisionsfälle, und und und.
Wenn nicht alle Menschen gleichberechtigt zumindest auf die Überwachung und Einhaltung der Grundrechte vor Gericht vertrauen können, sondern Gefahr laufen, an einen Richter oder eine Richterin zu geraten, der oder die den sprichtwörtlich gesagt kurzen Prozess macht, braucht man keinen Richter mehr. Das ist meine Meinung, auch wenn sie als einzelne Stimme sicherlich völlig wertlos ist.
s. § 30 des Deutschen Richtergesetzes:
http://www.gesetze-im-internet.de/drig/__30.html
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