Sonntag, 23. April 2006

Brief eines Frankfurter Strafrichters an Bischof Huber

"Herrn Bischof
Wolfgang Huber
Kirchenamt der EKD
Herrenhäuser Str. 12
30419 Hannover


Kollektives Verbrechen?


Sehr geehrter Herr Bischof Huber,

Sie sollen den Mord an Hatun Sürücü als "kollektives Verbrechen einer ganzen Familie" bezeichnet haben.

So habe ich es jedenfalls in Bild.T-Online.de

gelesen - glauben kann ich es eigentlich noch nicht. Haben Sie das wirklich gesagt, oder gibt es ein Dementi, das ich übersehen habe?

Woher nehmen Sie diese Erkenntnis? Wissen Sie etwas, was das Gericht nicht wusste? Oder sind Ihre Äußerungen unautorisiert so verkürzt wiedergegeben worden?

Sie haben erklärt, auf das kollektive Verbrechen einer ganzen Familie antworte unser individuelles Strafrecht nur sehr unzureichend. Und: Auch die freigesprochenen Brüder treffe in jedem Fall eine moralische Schuld. "Dass sie an dieser Tat beteiligt waren, steht für mich fest."

Und danach - fast beschwichtigend: "Aber ich habe Respekt gegenüber der Justiz, die eindeutige Beweise braucht."

Ja was brauchen Sie denn, damit etwas für Sie feststeht? Etwa keine eindeutigen Beweise? Woher nehmen Sie die für einen evangelischen Bischof geradezu erschreckende Überheblichkeit, den freigesprochenen Brüdern schon vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahr ins öffentlich eine moralische Schuld zuzuweisen?

Meinen Sie, das Gericht sei der Frage einer möglichen Beteiligung der Brüder nicht ausreichend nachgegangen? Soviel ich weiß, sind allein zur Frage der Familienstrukturen im türkischen Kulturkreis zwei Sachverständige vernommen worden. Aber es ist halt nicht immer so, wie sich die Leser der Bildzeitung und von Online-Bild die Strukturen "der" türkischen Familie vorstellen. Herr Özdemir hat sich dazu ebenfalls öffentlich geäußert - sozusagen als Obergutachter für türkische Familienstrukturen. Als ob ausgerechnet er wüsste, wie es in der Familie des Opfers tatsächlich gewesen ist. Ich weiß als Strafrichter sehr gut, dass es auch Familienstrukturen gibt, die mit den Wertvorstellungen unseres Grundgesetzes nicht vereinbar sind (in türkischen Familien wie auch in deutschen und denen anderer Nationalitäten). Aber ich maße mir nicht an, über die Struktur einer konkreten Familie zu urteilen, bevor ich diese nicht ganz genau kenne.

Möglich, dass am Ende des noch anhängigen Verfahrens ein anderes Ergebnis steht. Aber wenn Sie jetzt schon persönliche Überzeugungen von der Schuld Freigesprochener öffentlich äußern, müssen Sie auch sagen, worauf Sie sich stützen.

Ein aufgeklärter Mensch sollte schon unterscheiden können zwischen auf Vorurteilen basierenden pauschalen Verdächtigungen und individueller Schuld - wobei ich hier bewusst nicht unterscheide zwischen strafrechtlich relevanter Schuld und dem, was Sie als moralische Schuld bezeichnen. Freilich ist es gut, dass nicht alles bestraft
wird, was wir für unmoralisch halten mögen. Und es mag auch unterschiedliche Anforderungen an Gewissheit geben. Aber für eine öffentliche Zuweisung moralischer Schuld - noch dazu durch den Ratsvorsitzenden der EKD - dürfen keine geringeren Anforderungen gelten als für eine gerichtliche Feststellung strafrechtlich
relevanter Schuld.

Unser staatliches Strafrecht kennt - Gott sei Dank! - in der Tat nur individuelle Schuld. Oder möchten Sie für eine Tat bestraft werden, für die Sie nicht ganz persönlich und individuell verantwortlich gemacht werden können? Wie stellen Sie sich ein Strafrecht vor, das auf ein "kollektives Verbrechen einer ganzen Familie" eine nach Ihrer Auffassung zureichende Antwort findet?

Ich gestehe jedem Angehörigen welcher Religion auch immer und jedem Atheisten zu, etwas zu glauben, für das er nach rationalen Kriterien keine Beweise hat. Aber ich gebe niemandem - und schon gar nicht einem Bischof der Kirche, der auch ich angehöre - das Recht, einen Mitmenschen öffentlich moralisch zu verurteilen, bevor er dafür
Beweise nennen kann. Und wer sich in der "Bild" äußert, muss ganz besonders vorsichtig sein. Er muss - noch dazu als Mann in Ihrer Position - wissen, dass dort nahezu jede Aussage auf die Ebene einer Stammtischparole verkürzt wird. Die reißerische Überschrift "Bischof verurteilt Ehrenmord-Familie" spricht für sich.

Wenn sie persönlich wirklich überzeugt sind von der moralischen Mitschuld anderer Familienmitglieder, dann nennen Sie Ross und Reiter: Sagen Sie bitte genauso öffentlich, worauf Sie diese persönliche Gewissheit von der "Kollektivität des Verbrechens" stützen. Oder entschuldigen Sie sich bei der Familie für Ihre
unbedachten Äußerungen. Und warten Sie ab, wie das noch nicht rechtskräftig abgeschlossene Verfahren ausgeht.

Die Unschuldsvermutung gilt auch für die nicht verurteilten Angehörigen der Familie des Opfers.

Wer gerade in diesem Fall den Angehörigen öffentlich ohne Beweise moralische Schuld zuweist, schürt Fremdenfeindlichkeit. Und er fügt der evangelischen Kirche schweren Schaden zu.

Ich schreibe Ihnen diese Zeilen als Strafjurist, aber ebenso als evangelischer Christ und jemand, der viele Jahre seines Lebens ehrenamtlich für diese Kirche tätig gewesen ist.

Freundliche Grüße
Karsten Koch
(seit 32 Jahren Staatsanwalt und Strafrichter)"


Deer Verfasser, Richter am Amtsgericht Offenbach/Main, kann es kaum glauben: Die EKD veröffentlicht das Interview zusätzlich.

Ich stimme dem Schreiben von Karsten Koch voll inhaltlich zu. Auch der Kollege Pohlen hatte sich schon frühzeitig zutreffend geäußert.

Die Antwort des Pressesprechers des Bischofs ist hier zu finden.

Dies ist die Reaktion auf die fehlende direkte Antwort des Bischofs.

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